Triaden des Vertrauens I
Bildloses Vertrauen
von Gerald Pirner, Fotograf
Der französische Philosoph Emmanuel Levinas lässt einen Blinden nachts mit einer Fackel auf der Straße gehen, der gefragt, warum er als Blinder eine Fackel trage, wo er doch nichts sehe, diesen antworten lässt: damit er gesehen werde.
Die fotografische Methode des Lightpaintings stattet einen Blinden mit einer Taschenlampe aus, um aus dem Dunkel Personen sichtbar werden zu lassen. In der einen Hand die Lampe, die andere Hand berührend auf dem Körper des Modells, entwickelt sich zwischen beiden eine ganz besondere Art der Beziehung, die mit herkömmlicher Porträtfotografie von Sehenden nicht viel zu tun hat.
Solcherart Beziehung gründet auf etwas Unausgesprochenem, es gründet auf einem Vertrauen, das sich in dem Moment zu entwickeln scheint, da Portraitsitzungen mit einem blinden Fotografen beworben werden. In Gesprächen mit den Frauen, und es sind zu Beginn ausschließlich Frauen, die sich vom blinden Fotografen fotografieren lassen wollen, stellt sich heraus, dass ein großer Teil der Frauen Probleme hat, sich von sehenden Fotografen porträtieren zu lassen, bzw. dies vollkommen unterlässt.
Was vollzieht sich also in einem solchen Moment des Entstehens von Vertrauen, einem Moment einer bildlosen Kommunikation, deren Kern eben gerade diese Bildlosigkeit ist, denn die ganze Szenerie vollzieht sich im Dunkeln, keine/keiner der Beteiligten sieht hier noch etwas, zumal der blinde Fotograf seine Modelle immer zuerst die Augen schließen lässt.
Jenseits, vielleicht auch hinter dem Bild entsteht scheinbar eine Reflektion, eine Spiegelung, die das Vertrauen selbst hervorbringt, eine Reflektion, die nichts mit Visualität zu tun hat, die sich aber umso mehr aus dem Erspüren einer aufkommenden Nähe speist.
Eine Hand kommt aus dem Dunkel, nähert sich spürbar dem Modell und eine Stimme erzählt was die Hand und die Lampe in der anderen Hand tut und das Modell lässt all dies zu, gibt sich der Hand und dem Tun eines Fremden hin. Die Stimme des Fotografen trägt in dieser haptischtaktilen Reflektion, in der das Modell sich selbst am Körper des Fotografen spürt, dazu bei, dass im inneren Bild des Modelles eine ganz andere Art der Verspiegelung sich entwickelt.
Zwischen Berührung und Stimme entsteht für das Modell also ein Raum, der von Sehenden als etwas empfunden wird, worin und woher aus sich eine andere Imagination, eine andere Art der Einbildungskraft entwickelt: es entsteht in der Körpernähe zum Blinden ein Raum, in den auch Sehende sich hineinbegeben, um eine Resonanz zu leben, die sich an Stelle der visuellen Reflektion einstellen will.
Wo kein visuelles Bild mehr gesehen wird öffnet sich der Mensch, um in der Reflektion einer visuell nicht berechenbaren Nähe ein neues Bild aus sich selbst heraus entstehen zu lassen. Der Blinde wiederum geht vollkommen vorstellungslos in diese Beziehung hinein, getragen natürlich von einem Bild der Produktion des Bildes, das er entlang einer Komposition entwickeln wird. Die beiderseitige Verletzlichkeit, die obendrein noch dadurch auf die Probe gestellt wird, dass der Blinde das Modell mit der Hand berühren muss, um es zu spüren, es zu erspüren, nicht zu ertasten.
Die Ebene eines Vertrauens ersteht, die sich in der bildlosen Machtlosigkeit auswächst, die sich auf eine Situation der Begegnung mit dem absolut Andersartigen, etwas vollkommen bildlos Fremden finden und erspüren will.
Das Vertrauen der Sehenden dem Blinden gegenüber entsteht aus dem Wissen eben um diese immerwährende Verletzlichkeit des Blinden, den kein Bild schützt, mit dem er sich vor allem Sehen zu verbergen vermag, hinter einem Bild als sichtbare Wand gegen den anderen, gestützt durch seine Augen, zu schützen vermag. Die Augen eines Sehenden schützen ja nicht nur durch ihr Sehen, sie schützen ja vor allem auch durch die Fähigkeit der Augen, die anderen Sehenden in Schranken zu weisen und dort zu halten.
Vielleicht ist blindes Vertrauen ein Vertrauen auf eine Welt hinter dem Bild, wie es eine Welt hinter dem Spiegel geben muss, zu der das Fremde im Eigenen vorzustoßen trachten könnte, um es von einer Bildlosigkeit sichtbar werden zu lassen, von Bildlosigkeit Bild werden zu lassen.
Vertrauen entwickelt sich in der blinden Fotografie zwischen zwei Menschen, einem Sich-Öffnen des Modelles und einem Blinden, der ein ganz anderes Bild in sich erstehen sieht, ein Bild, das nichts mit Optik zu tun hat. Das Bild eines Blinden speist sich aus Gespür, Geruch und Gehörtem. Und doch: wo die trennende Kraft des Bildes fehlt entfaltet sich vielleicht aus dem Andern und seiner Spur etwas, das sich nicht mehr im Bild verlieren will, das nur einer – wenn auch nur kurzzeitigen – Nähe des Bildlosen sich anvertrauen will, um sich selbst in einem eigenen fremden Bild sehen zu können, in einem schwarzen Spiegel sozusagen, der den Blick selbst hinter sich führt.
Das Vertrauen Sehender einem Blinden gegenüber in der Fotografie besteht aus dem Wagnis, sich auf ein ganz anderes Bild ihrer Selbst einlassen zu wollen.
Das Modell will nicht sich sehen, es will die Beziehung, die in der Fotografie mit einem Blinden entsteht, dokumentiert sehen. Es will ein Bild ohne Distanz, ein Bild, das aus einer vertrauensvollen Hingabe zu sich selbst entsteht, ohne visuellen Kontrollblick entstehen kann. Und das Bild, das da entsteht, ist letztlich nur ein Dokument einer – wenn auch nur kurzzeitigen – vertrauensvollen Beziehung, einer Beziehung mit einem der die andere nicht sieht. Der Blinde wird als Fotograf vertrauensvoll als neuer Weg zum eigenen Bild von Sehenden gesehen, die darin das Ungesehene in sich wiedererkennen wollen.
Die Basis solcher Art Beziehung des Vertrauens ist die Aversion gegen das Bild, ist die Aversion gegen die vom Bild getragene Machtstruktur, die immer wirkende Hierarchie zwischen Fotografen und Modell, es ist vielleicht eine Umkehrung einer solchen Beziehung, wo am Ende ein Modell steht, das das von ihm gemachte Bild dem Fotografen beschreibt, der es zwar gemacht hat, sein Ergebnis aber nicht sieht, es ungesehen schuf, entlang eines inneren Bildes es bildete.
Nicht einfach Vertrauen also, eher ein verdoppeltes Vertrauen: Vertrauen des Modelles auf eine bildlos unversicherte Nähe zu sich, die von keinem Bild, noch nicht einmal einer Imagination eines Sehenden gestört wird und Vertrauen eines Blinden, dem die Bilder so beschrieben werden, dass er solches Vertrauen in der Beschreibung seines Bildes wiedererkennen kann, dass er am Bild seine Bilder weiterzuentwickeln vermag.