Digital Wondering 10
Die Digital Wonderings sind eine Reihe von Online-Diskursen rund um das kuratorische Thema TRUST. Sie können jede Form annehmen: von einem Gespräch, über ein kurzes Statement oder einen Film, bis hin zu einer fotografischen Serie. Die von Susan Bright und Nina Strand eingeladenen Mitwirkenden kommen aus den unterschiedlichsten Disziplinen und können nach Belieben auf das Thema und das Format antworten und reagieren.
Fotobücher zum Thema Vertrauen
Text von Nina Strand
Bei einem Besuch in Paris sollten Sie sich die Buchhandlung Delpire & Co im Quartier Saint-Germain-des-Prés, gleich hinter dem berühmten Café de Flore, nicht entgehen lassen. Delpire & Co befindet sich am historischen Ort von Galerie und Verlag Delpire und ist spezialisiert auf Fotobücher und Drucksachen. Als die Buchhandlung letztes Jahr mit einer Auswahl an Büchern, Drucken und Installationen eröffnete, wurde damit ein neues Kapitel in der Geschichte des Verlags Delpire aufgeschlagen, im Geiste des renommierten Verlegers Robert Delpire. Delpire war Herausgeber der Kulturzeitschrift Neuf, der auf Fotobücher spezialisierten Éditions Delpire und der Reihe Photo Poche und brachte die erste Ausgabe von Robert Franks Les Américains und andere ikonische Bücher heraus.
An dem Mittwoch im April, an dem ich dort war, sah ich mich in dem kleinen Raum um und fand fünf verschiedene Bücher, die sich auf die eine oder andere Weise mit unserem Festivalthema Vertrauen befassen. Die aktuelle Auslage enthält zahlreiche Bücher über Träume, und diese Bücher, von denen die meisten Ende 2020/Anfang 2021 erschienen sind, hängen sehr direkt mit unserer neuerdings so fragmentierten, nostalgischen und erschöpften Welt zusammen. Sie berichten auch von der Ernüchterung derjenigen, die sich auf der Suche nach einem besseren Leben auf gefährliche nächtliche Überfahrten begeben, oder von den Spuren einer Landschaft, die ihren Glanz verloren hat und an ihren Traditionen hängt.
Das erste Buch, das ich herausgreifen möchte, ist Portraits and Dreams von Wendy Ewald, erschienen 2020 bei Mack. Aus dem Klappentext erfahren wir, dass sie 1975 auf einer Reise in die Appalachen dort lebende Kinder bat, ihre Träume zu fotografieren: „Aus den faszinierenden Fotografien und Protokollen erfahren wir etwas über das Leben der Familien, gesehen mit den Augen der Kinder. Die Kamera zeigt das wirkliche Leben – Liebe, Verlust, Gewalt, Tod und neues Leben.“
Mich fasziniert außerdem das Buch Sister Sister von Liv Liberg, erschienen 2021 bei Art Paper Editions. Liberg war zehn Jahre alt, als sie begann, ihre jüngere Schwester zu fotografieren; diese Zusammenarbeit war „ein Spiel von zwei Schwestern mit Mode, Verkleidung und Fotografie nach ihren eigenen Regeln. Was als Kinderspiel anfing, wurde zu einer echten Obsession. Liberg führt über fünfzehn Jahre hinweg Regie, wenn sie ihre Schwester in verschiedenen Kontexten fotografiert; meistens trägt das Mädchen dabei die Kleidung ihrer Mutter, und nach und nach wird sie sich ihrer selbst und der Welt um sie herum bewusst.“
Ein letztes Buch aus der Auslage, das sich mit Vertrauen beschäftigt, ist Face to Face von Seiichi Furuya & Christine Gössler, 2020 bei Chose Commune erschienen. Furuya traf Gössler 1978 und fotografierte sie von da an ständig, in ihrer Grazer Wohnung und auf allen ihren Reisen, mit dem gemeinsamen Sohn und bei der Arbeit. Seit Gösslers Selbstmord 1985 hat Furuya immer wieder sein Archiv aufgesucht und ist dabei auf zahlreiche Fotografien gestoßen, die sie von ihm gemacht hat, während er sie fotografierte, wodurch die Arbeit zu einem reziproken Projekt wurde.
In einem der Regale fand ich einen Band mit dem Wort „Vertrauen“ im Titel. Delpire & Co war Mitveranstalter der letztjährigen Paris Photo-Aperture Foundation PhotoBook Awards; Gewinner des Preises für das beste erste Fotobuch war Living Trust von Buck Ellison, 2020 bei Loose Joints Publishing, Marseille, erschienen. Wie die Jury erläutert, untersucht Ellisons Buch die visuelle Sprache der Privilegierten. Die Fotografien zeigen unverhohlen inszenierte Porträts für Weihnachtskarten, Stillleben von Lebensmitteln und Blumen und Upper-Middle-Class-Aktivitäten wie Lacrosse, Rudern und Golf. Zusammengenommen ergeben die Bilder der Serie eine gründliche, fast anthropologische Untersuchung der Arten, wie Darstellungen von Whiteness verbreitet werden. „In unseren Gesprächen kristallisierte sich heraus, dass Living Trust wirklich gut in den Blick nimmt, was viele für selbstverständlich halten“, sagt Jurymitglied Oluremi C. Onabanjo, unabhängiger Kurator und Historiker: „Es ist wichtig, die fortgesetzte leise Gewalt und die Sicherheit, die Weißsein mit sich bringt, sichtbar zu machen. Dieses Buch tut genau das.“
Und schließlich das kleine mexikanische Buch, das – worauf mich die Kuratorin Anna Planas aufmerksam machte – Vertrauen wirklich verkörpert. Recetario para la memoria, ein gastronomisches, fotografisches und soziales Projekt, ist Denkmal, Fotobuch und Kochbuch in einem. Es enthält die Lieblingsgerichte von 30 vermissten Personen aus Sinaloa, Mexiko. Ein Teil der Einnahmen aus dem Verkauf des Buches geht an die Gruppe Las Rastreadoras – Mütter, Töchter und Schwestern, die nach ihren vermissten Angehörigen suchen. Die Fotografin, Zahara Gómez, die seit 2016 zu der Gruppe gehört, erklärt in einem Interview mit Animal Político, dass sie, nachdem sie die Suche der Rastreadoras vier Jahre lang fotografisch begleitet hatte, das Gefühl bekam, es sei Zeit für ein Projekt mit einem privateren Charakter, bei dem „das Thema auf den Tisch kommen“ könnte. Die Gruppe – die sich 2014 nach dem Verschwinden von Mirnas Sohn Roberto in Los Mochis, Sinaloa, gegründet hatte – bereitete für das Buch die Lieblingsgerichte ihrer vermissten Angehörigen zu. Wie die Fotografin schreibt: „Du unterhältst dich mit den Müttern, und ihre Hauptsorge ist, ob ihre Vermissten hungrig sind oder frieren; hungrig sein bedeutet am Leben sein, Essen bekommt also eine andere Dimension – es hält ihre Lieben am Leben.“ Zahara besuchte jede dieser Familien zu Hause, um die Gerichte zu fotografieren und über die Zubereitung zu sprechen. Im Laufe der Unterhaltungen kamen Erinnerungen auf und wurde mit allen am Tisch geteilt. Das Buch ist im Eigenverlag erschienen und kann auf cookbookparalamemoria.com erworben werden; 50% des Erlöses gehen an Las Rastreadoras.