TRUST/vertrauen
Das 9. f/stop — Festival für Fotografie Leipzig reagiert mit TRUST/vertrauen auf unsere neue Zukunft. Vertrauen ist von zentraler Bedeutung in der COVID-19-Krise, der Black-Lives-Matter-Revolution, der #metoo-Bewegung, bei Fake News, Wahlen, im Umgang mit Technologien und ebenso in unserem persönlichen Leben. Mehr denn je ist Vertrauen entscheidend dafür, wie wir uns auf persönlicher und auf gesellschaftlicher Ebene verhalten.
TRUST/vertrauen präsentiert in seiner Ausstellung Künstler:innen, deren unterschiedliche Art und Weise, sich mit Vertrauen zu beschäftigen, allesamt dazu einladen, über Vertrauen, Einvernehmlichkeit, künstlerische Handlungsmacht, computergestützte Beziehungen, Glauben, Körper und Intimität nachzudenken.
Die Hauptausstellung TRUST/vertrauen des 9. f/stop — Festival für Fotografie Leipzig zeigt Werke von Hoda Afshar (IR/AUS), Viktoria Binschtok (D), Ingrid Eggen (NO), Paul Mpagi Sepuya (USA), Laure Prouvost (FR), Carmen Winant (USA) und Guanyu Xu (CHN).
Die von den Kuratorinnen Susan Bright und Nina Strand konzipierte Gruppenausstellung ermöglicht ein „langsames Schauen“, indem sie große Werkgruppen der einzelnen Künstler:innen präsentiert.
Das Duo hat Künstler:innen eingeladen, direkt auf das Thema TRUST zu reagieren und hierfür Fotograf:innen ausgewählt, in deren Werken das Vertrauen in die Fotografie als Medium besonders kritisch hinterfragt wird.
Essay über TRUST/vertrauen
von Susan Bright und Nina Strand
Kuratorinnen des 9. f/stop – Festival für Fotografie Leipzig
Mit dieser Ausgabe des f/stop-Festivals für Fotografie Leipzig reagieren wir auf unsere neue Zukunft. Die Welt befindet sich nach wie vor in den wechselnden Extremzuständen einer Pandemie. Wir wissen nicht, wie die Kunstszene aussehen wird, wenn Impfkampagnen abgeschlossen, Mutanten unter Kontrolle gebracht und Lockdowns beendet sind. Aber ausgehend von unserer jetzigen Situation sind wir überzeugt, dass Vertrauen die Währung des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist. Vertrauen ist von zentraler Bedeutung in der COVID-19-Krise, der Black-Lives-Matter-Revolution, der #metoo-Bewegung, bei Fake News, Parlamentswahlen, dem Umgang mit Technologien und natürlich in unserem persönlichen Leben. Mehr denn je ist Vertrauen entscheidend dafür, wie wir uns auf persönlicher und auf gesellschaftlicher Ebene verhalten. Die Aktualität, Brisanz und Relevanz des Themas Vertrauen sind offensichtlich. In der Wissenschaft ist Vertrauen allerdings ein relativ neues Forschungsfeld. In den letzten 15 Jahren hat die Forschung zu diesem Thema zwar exponentiell zugenommen,[i] die (wissenschaftliche) Vertrauensforschung sieht sich aber auch einigen Schwierigkeiten gegenüber: dem Fehlen einer allgemeinen Theorie und einer verbindlichen Begriffsdefinition (letzteres ein Problem auch in Bezug auf andere soziologische und psychologische Untersuchungsgegenstände wie Kontrolle, Selbstvertrauen, Risiko oder Macht) sowie der Unmöglichkeit, den Erfolg oder Misserfolg von Vertrauen zu messen.
Es herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass die Komplexität von Vertrauen eine interdisziplinäre Herangehensweise notwendig macht. Autor:innen der verschiedenen Disziplinen entwickeln jeweils für ihr Fach und ihren Ansatz eine geeignete Definition. In der Harvard Business Review haben Jack Zenger und Joseph Folkman drei Bestandteile von Vertrauen definiert: positive Beziehungen, Konsistenz und Urteilsvermögen/Expertise.[ii] Damit soziales Vertrauen entstehen kann, sind transparentes Handeln, die Kontinuität von Werten und ein Glaube an die Gemeinschaft notwendig. Wenn Versprechen uneingelöst bleiben, schleicht sich ein Gefühl des Betrogenseins ein und untergräbt den sozialen Zusammenhalt.[iii]Ganz allgemein gesagt handelt es sich bei Vertrauen um ein Verhalten, das von Respekt, Verlässlichkeit, Gegenseitigkeit und Verantwortung geprägt ist.
Gerade das Komplexe und schwer zu Fassende an Vertrauen, zusammen mit seiner Einbettung in menschliche Verhaltensweisen, fasziniert uns an diesem Thema. Genau wie das Vertrauen widersetzt sich auch die Kunst reduktionistischen Annahmen und Definitionen. Sowohl für das digitale Programm des f/stop-Festivals als auch für die Ausstellung in der Werkschau (Halle 12) haben wir Mitwirkende eingeladen, deren unterschiedliche Art und Weise, sich mit Vertrauen zu beschäftigen, allesamt das Publikum dazu einladen, über Vertrauen, Einvernehmlichkeit, künstlerische Handlungsmacht, computergestützte Beziehungen, Glauben, den Körper und die Intimsphäre nachzudenken. Die Künstler:innen gehen ganz unterschiedlich an das Thema Vertrauen heran, verfolgen je eigene Ansätze und denken auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene darüber nach.
Ein Festival als Work in Progress
Als Kuratorinnen wollen wir neue Prozesse ausprobieren und mit unterschiedlichen Möglichkeiten experimentieren, einen gemeinsamen Raum zu imaginieren und zu erschaffen. Die kuratorische Arbeit für f/stop verstehen wir als „Work in Progress“ in mehrfacher Hinsicht. Wir hoffen, dass es uns gelungen ist, die Möglichkeiten und die Reichweite des Festivals zu erweitern. Indem wir es als unabgeschlossenen Diskurs und Reflexionsprozess betrachten, öffnen wir das Festival und machen es zu einem Ort für Reaktionen auf die Herausforderungen der gegenwärtigen komplexen Situation.
Als Folge der Ereignisse des vergangenen Jahres mussten alle Kultureinrichtungen neu denken, neue Ideen und Konzepte entwickeln und sich neu erfinden. Niemand ist gegen diese Veränderungen immun – und niemand sollte immun sein. Die offensichtlichste Veränderung, die wir alle wahrgenommen haben, ist die zunehmende Zahl von Onlineveranstaltungen, mit denen Kunsteinrichtungen ihre Programme dem Publikum zugänglich machen. Wie die Künstlerin Viktoria Binschtok sagt: „Es sind außergewöhnliche Zeiten, in denen ‚Business as usual‛ keine Lösung ist. Digitale Räume sind für die Kommunikation wichtiger denn je. Jetzt ist der ideale Moment, um über den vernetzten Austausch von Bildernnachzudenken.“[iv]
Die Idee der Digital Wonderings auf der f/stop-Website haben wir entlehnt von den Visual Wanderings auf der Objektiv-Seite, für die Fotograf:innen und Künstler:innen aus aller Welt dazu eingeladen werden, mit Kunstwerken auf die aktuelle Situation zu reagieren.[v] Im Format der Digital Wonderings denken Mitwirkende aus ganz unterschiedlichen Bereichen online über das Thema Vertrauen nach, wobei sie in der Wahl der Form völlig frei sind.[vi] Unser Wunsch für die Digital Wonderings ist, dass sie in Einklang stehen mit einer progressiven Kulturagenda, die Zusammenarbeit fördert und Vorannahmen in Frage stellt. Der Ansatz ist interdisziplinär und verwebt Komplexität, Humor und Ernsthaftigkeit, stellt Alltagsbilder neben Kunstwerke und bemüht sich, Publikumserwartungen daran, was ein Festival auszustellen hat, zu unterlaufen. Es ist unser Anliegen, Künstler:innen, Sammlungen und intellektuelle Entdeckungen zu fördern, das Publikum zu inspirieren und die Zeit, in der wir leben, zu kommentieren.
Eine der Mitwirkenden an den Digital Wonderings ist die südafrikanische Künstlerin Lebohang Kganye. Ihre Fotografien bieten einen originellen Blick auf ihre Familiengeschichte und damit auch insgesamt auf die Geschichte Südafrikas vor und während der Apartheid. In unserem Interview sagt sie, dass Vertrauen für sie nicht die Abwesenheit von Zweifel bedeutet, sondern dass Vertrauen und Zweifel nebeneinander bestehen. „Fotografie ist vom Unbewussten beeinflusst“, fügt sie hinzu. „Ihre Mittel machen sichtbar, was wir normalerweise nicht sehen – die Lücken, die Zwischenräume, den Verlust.“
Eine weitere Mitwirkende unserer Onlineserie beschäftigt sich ebenfalls mit Geschichte. Wir haben Dannielle Bowman kontaktiert, nachdem wir ihren Beitrag zum 1619 Project gesehen haben. Dieses Projekt hat das New York Times Magazine erarbeitet, um an das Jahr zu erinnern, in dem das erste Schiff mit versklavten afrikanischen Menschen die amerikanischen Kolonien erreichte. Ihr Beitrag zu den Digital Wonderings ist ein Bild, das sie während der Arbeit an diesem Projekt gemacht hat; der zugehörige Text handelt von Besuchen auf Thomas Jeffersons Landgut Monticello, zuerst als Schülerin der 5. Klasse und später als Erwachsene. Sie fragt, ob wir unseren Erinnerungen trauen können und ob wir glauben können, was unsere Lehrer:innen uns beibringen. Sie setzt sich mit dem Verborgensein von Wissen auseinander.
Auch die Fotografin Salma Abedin Prithi aus Bangladesch beschäftigt sich mit dem, was verborgen ist, und mit dem, was in der fotografischen Repräsentation sozusagen überbelichtet ist. In ihrer Serie Mundanebeschäftigt sie sich mit den zunehmend passiven Reaktionen auf Fälle von extremer Gewalt, die eine Folge der sich ständig überbietenden Hassdarstellungen in den Nachrichten sind. Diese Arbeit lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Normalisierung von Gewalt in ihrer Gesellschaft, in der die Häufigkeit brutaler Verbrechen dazu führt, dass solche Ereignisse alltäglich erscheinen und Menschen ihnen keine Bedeutung mehr beimessen. In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen des deutschen Publizisten Jan Philipp Reemtsma einschlägig. In seinem Buch Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne (2008) argumentiert er, dass in der Diskussion über Gewalt diese entweder mystifiziert oder pathologisiert wird. Laut Reemtsma ist Gewalt nicht zu verstehen ohne ein Verständnis von Vertrauen und dem eigenartigen Verhältnis und Gleichgewicht zwischen beiden.
Sieben Positionen zu Vertrauen
Parallel zum Onlineprogramm haben wir uns mit der lokalen Situation vertraut gemacht und uns bemüht, das Festival auch in die Stadt und in den Alltag der Menschen in Leipzig zu bringen. Wir haben Carmen Winant beauftragt, Poster zu entwickeln, die in der ganzen Stadt zu sehen sind. Sie bezeichnet sich selbst oft als Fotografin, die keine eigenen Bilder macht, und interessiert sich für eine Fotografie, die das Fotografische verweigert. Sie arbeitet mit Collage, Installation und Found Images, weil sie der Verführungskraft der Fotografie misstraut. Am Beginn ihrer Auftragsarbeit stand ihre Sammlung von Bildern von Theatergesten der Schauspielerin Marlene Dietrich (die sie aus einem alten Buch ausgeschnitten hatte); die Sammlung wuchs dann an auf tausende Gesten von Schauspielerinnen. Während des Sammelns entstand Winants Faszination dafür, wie Schauspielerinnen ihre Hände als Werkzeuge ihres Handwerks nutzen, als Instrumente des Ausdrucks und der Manipulation.[vii]
In Bezug auf unser Thema greifen diese Hände, die in der ganzen Stadt und auch im Hauptausstellungsraum zu sehen sind, das Thema von Vertrauen in Performance auf. Wie Winant sagt: „Je nach ihrer Haltung fangen diese Hände kollektiv einen Sturz ab oder werden alle gleichzeitig gehoben (in einem imaginären Klassenzimmer oder Gerichtssaal). Davon habe ich mich bei meinem Nachdenken über Vertrauen leiten lassen: Was wir einer Schauspielerin geben, oder was sie vielleicht von uns verlangt, ist, dass wir ihre Darbietung wirklich spüren. Je nach den beteiligten Menschen, Kontexten, Orientierungen kann das ganz unterschiedlich aussehen. Und es ist etwas, was wir dauernd tun, gemeinsam und im Austausch.“
Als Folge der Ereignisse der letzten Zeit, insbesondere des Tods von George Floyd, haben öffentliche Sympathiebekundungen und die demonstrative Zurschaustellung moralischer Positionen starkzugenommen. Akte wie das sogenannte „Taking the knee“ (bei dem Sportler:innen als antirassistisches Statement während der Nationalhymne nicht, wie es erwartet wird, stehen, sondern z.B. knien) sind der Hintergrund, vor dem wir die Poster betrachten. Für die Position der Hände gibt es dabei unterschiedliche Lesarten. Wenn sie nach unten ausgestreckt werden, sieht es so aus, als wollten sie einen Sturz abfangen – eine Handlung, von der Michelle Dent und MJ Thompson in Women and Performance: A Journal of Feminist Theory sagen, dass sie „der letzte verzweifelte Ausdruck von Handlungsmacht ist, der uns bleibt, wenn wir uns dem Schrecken und der schrecklichen Schönheit gegenübersehen, die Verlust und Trauer mit sich bringen.“[viii] Bei hochgestreckten Händen denken wir in letzter Zeit eher an Konflikte mit der Polizei, als an etwas Feierliches wie einen Tanz. In jedem Falle ist diese Geste ein Kommentar zu menschlicher Verletzlichkeit und Handlungsmacht.
Das Motiv der Hände findet sich auch in den Arbeiten von Ingrid Eggen und Laure Prouvost. Hände und Gesten haben in der Kunst schon immer verschlüsselte Botschaften übermittelt, aber seit durch COVID-19 Berührung so stark aufgeladen ist, hat ihre Bedeutung noch zugenommen.[ix] Die beiden Filme von Laure Prouvost, die in TRUST zu sehen sind – I Need To Take Care Of My Conceptual Granddad (2010) und Taking Care (Love Letter to Fellow Art Work) (2019) – sind Teil von Prouvosts Monitor-Videoserie, in der sie über das Objekt oder Relikt spricht, das sie vor sich hat, ohne dabei dem:r Betrachter:in ihr Gesicht zu zeigen. Ihre Hände werden zu den Protagonistinnen der Filme.
Der Titel I Need To Take Care Of My Conceptual Granddad bezieht sich auf einen imaginären Verwandten, von dem Prouvost sagt, dass er ein Konzeptkünstler und guter Freund von Kurt Schwitters war. Es gibt aber auch eine Referenz auf den britischen Künstler John Latham: sein Werkkatalog wird im Video mit Feuchtigkeitscreme bedeckt. Latham war zu Beginn von Prouvosts Laufbahn sehr wichtig für sie. Taking Care (Love Letter to Fellow Art Work) bezieht sich auf den früheren Film. Nach dem ursprünglichen Konzept für die Präsentation dieser Arbeit in einem Ausstellungsraum hätte sie auf einem Monitor gezeigt werden sollen, der vor einem anderen Kunstwerk platziert wird, an das der „Liebesbrief“ gerichtet ist. Stattdessen wurde das Video während des ersten Lockdown-Frühlings im letzten Jahr auf den Websites der Künstlerin und der Galerie gezeigt und sollte in dieser schwierigen Zeit Trost spenden. Die Kamera ist auf Prouvosts Oberkörper und ihre Hände gerichtet, die die Kamera zu streicheln scheinen, während sie beruhigende Worte flüstert. Wenn man diese Arbeit jetzt ohne das andere Kunstwerk sieht, auf das sie sich eigentlich bezieht, hat man den Eindruck, man werde selbst mit Fürsorge und Aufmerksamkeit überschüttet. Beide Arbeiten sind Liebestaten; beide nehmen die Sorge für Kunst und Künstler:innen ernst. In einer Zeit, in der wir uns alle an Gespräche mit Abstand und körperlose Stimmen gewöhnt haben, ist die Bedeutung dieser Arbeiten vielleicht eine andere, als sie vor COVID gewesen wäre; sie fordern uns dazu auf, neu über die Körperlichkeit und Materialität von Kunst nachzudenken und darüber, wie wir sie erfahren.
Das Arbeiten unter veränderten Bedingungen hat natürlich auch Einfluss auf mögliche Lesarten, und es ist schwierig sich vorzustellen, wie es sein wird, Kunst irgendwann nicht mehr unter den Vorzeichen der Pandemie zu betrachten. Die norwegische Künstlerin Ingrid Eggen untersucht die nonverbale Kommunikation und den Symbolismus des Körpers, oft indem sie in ihren großformatigen Fotografien Körpersprache zerlegt und verzerrt. Sie sagt über ihre Arbeit: „Ich möchte einen animalistischeren Körper zeigen und das surreale Bemühen, über die Beschränkungen der rationalen Moderne hinauszugelangen. Das schließt auch gesteuerte physische und psychologische Aspekte ein, die in einen Zusammenhang mit körperlichen Reflexen und unbewusstem Verlangen gebracht werden.“[x] In einer Welt, in der Emojis komplexe Emotionen und Gefühle ersetzen, berühren diese Fotografien das Thema unserer unwillkürlichen Gesten, Reflexe und Instinkte, und die unausgesprochenen Botschaften, die sie übermitteln.
Diese Akte lassen sich kaum auf schlichte Repräsentationen reduzieren, wie es ein schneller Daumen-hoch-Smiley tut. Stattdessen bieten sie eine andere Perspektive an, einen möglichen Bruch oder eine Öffnung, und manchmal eine Pause – unendlich weit entfernt von der Sprache der sozialen Medien. Sie zeigen uns die Bedeutung unwillkürlicher Gesten, und erinnern daran, wie viel in der Bildschirmkommunikation verlorengeht. Es sind diese stillen Momente zwischen Menschen – ein Blick, eine Berührung, ein Zurückzucken – die Vertrauen zwischen Menschen entstehen lassen und die Grundlage für Beziehungen darstellen.
Der Amerikaner Paul Mpagi Sepuya stellt Reflexivität und Kollaboration in den Mittelpunkt seiner Praxis; seine Fotografien zeigen die Beziehungen und das Vertrauen, die zwischen Künstler:in, Porträtiertem:r, Kamera und Bild entstehen. In TRUST stellen wir eine kleine Sammlung seiner frühen Porträts und Zines aus, die ein Berliner Freund und früher Unterstützer als Leihgaben zur Verfügung gestellt hat. Circa 2017, als seine Dark Room-Serie zum ersten Mal ausgestellt wurde, sagte Sepuya über seine Praxis, dass Porträtfotografie, homoerotische visuelle Kultur und sein Atelier die Grundlagen seien, auf denen er seine Fotografien, Bücher und Installationen entwickelt: „Porträtfotografie ist die Basis meiner Praxis. Die Menschen, die ich porträtiere, sind Bekannte, enge Freund:innen und Musen. Die Porträts vermitteln zwischenmenschliche Beziehungen mit der Entstehung von Fotografien.“[xi]
Während er 2004 in Brooklyn lebte, begann Sepuya, eine wachsende Gruppe neuer Bekannter vor dem reduzierten, aber bedeutungsgeladenen Hintergrund eines sehr privaten Atelier-und-Schlafzimmer-Sets zu fotografieren. In diesen frühen Arbeiten ist die Entstehung eines Porträts verbunden mit der veränderlichen Beziehung zwischen Fotograf und Porträtiertem:r, mit der „Backstage“-Situation des Ortes, an dem das Foto entsteht, und mit der Verbreitung der Bilder in Sepuyas selbstveröffentlichter Zine-Serie SHOOT. Bei diesen grundlegenden ersten Arbeiten macht Sepuya einerseits genau die Bilder der queeren Community, die er einfangen will – in gelassener, gemeinschaftlicher Intimität voller Freundschaft, Großzügigkeit, Romantik und Kreativität – und dekonstruiert gleichzeitig die Entstehung von Porträtfotografie, die Verschiebung von Subjektivität und die Vorstellungen davon, wie Bilder entstehen, gesehen werden und zirkulieren.
Die Erforschung von Vertrauen lässt sich grob gesagt in zwei Gebiete unterteilen: Vertrauen zwischen Menschen bzw. auf kultureller Ebene, wie es die oben besprochenen Arbeiten so präzise untersuchen, und „zwischenbetriebliches“ Vertrauen zwischen Organisationen und Institutionen.[xii] Diese Aufteilung in Zwischenmenschliches und Zwischenbetriebliches bildet allerdings nicht ab, wie eng Vertrauen mit Glauben zusammenhängt. Diese beiden Konzepte sind so eng miteinander verflochten, dass oft gar nicht zu entscheiden ist, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Glauben kann man nicht anfassen, nicht sehen und nicht fotografieren. Darin lag die Herausforderung, die Hoda Afshar sich gestellt hat, als sie die Inseln in der Straße von Hormus vor der Südküste des Irans besucht hat.
In der Gemeinschaft, die hier lebt, gibt es den Glauben, dass die Winde heimtückisch sind und den Menschen, die von ihnen besessen sind, Krankheiten bringen. Die Bewohner:innen praktizieren eine Zeremonie, um die Winde zu beruhigen und die Geister aus dem Körper zu exorzieren. Afshar verbrachte viel Zeit mit diesen Menschen und ihren Bräuchen, den Winden und der Landschaft. Die weitläufigen, fremdartig aussehenden Felsen, die über Jahrtausende hinweg vom Wind geformt worden sind, scheinen organische Formen angenommen zu haben. Michael Taussig bezeichnet sie in seinem Essay „Winds of History“ als göttliche Signaturen, als ob die Hände von Riesen sie geschaffen hätten.[xiii] Die Geschichten von diesen oft unvorhersagbaren Winden, ihrer Macht und ihren Spuren in den Menschen und der Landschaft werden zu einer geheimnisvollen Erzählung über Glauben, Geschichte und Feierlichkeit verwoben.
Afshar arbeitet mit Video und Fotografie, um subtil und intelligent herkömmliche Methoden der Dokumentation in Frage zu stellen. Sie kennt die neomarxistischen Schriften von Martha Rosler, Alan Sekula, Abigail Solomon-Godeau, Alan Trachtenberg und anderen über Dokumentarfotografie sehr genau, die der Vorstellung des einsamen Fotografen, der von der Welt Zeugnis ablegt, das Konzept einer inklusiven Dokumentation kritisch gegenüberstellen. Afshar stellt die Rolle des Dokuments, des Gegenstands, des:r Betrachtenden und des:r Betrachteten in Frage und verschiebt so die in der Dokumentarfotografie üblichen Machtverhältnisse.
Zwischenbetriebliches Vertrauen (besser gesagt: Misstrauen) ist das Thema der Arbeiten von Guanyu Xu und Viktoria Binschtok. Xus laufende Serie Resident Aliens beschäftigt sich mit diesem Thema in Bezug auf das Thema Autorität; die Arbeiten von Binschtok untersuchen es im Zusammenhang mit unserem widerstrebenden Vertrauen zu Tech-Giganten.[xiv] Im Zentrum von Xus komplexer Untersuchung von persönlicher und politischer Geschichte und Identität steht die Figur des:r Außenseiters:in. Resident Aliensbeschäftigt sich mit der Situation von Immi-grant:innen in den USA und dem gänzlich undifferenzierten und unpersönlichen Verhältnis zwischen den Autoritäten und denjenigen Menschen, die als „Ausländer:innen mit Aufenthaltsrecht“, „Migrant:innen“ oder „Geflüchtete“ kategorisiert werden, was zu einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit besonders gegenüber der asiatischen Community führt. In großformatigen Fotografien collagiert er Bilder von Besitztümern und Wohnräumen sowie private (Reise-)Fotos der Menschen, mit denen er für dieses Projekt zusammengearbeitet hat. In diesen Arbeiten geht es ihm darum, Vorstellungen von Vertrautheit und Fremdsein, Zugehörigkeit und Entfremdung und dem rechtlichen Status einer Person in Frage zu stellen. Für Migrant:innen ist das Zuhause niemals privat und sicher, sondern ein dauerhaft vorübergehender Zustand. Das Projekt untersucht Privilegien und Macht und wie prekär Vertrauen in Bezug auf Legalität und gesellschaftliche Akzeptanz bei denjenigen ist, die über beides nicht verfügen. Seine Praxis untersucht die Herstellung von Macht in und durch Fotografie, fragt aber auch nach persönlicher Freiheit und ihrem Verhältnis zu politischen Ordnungen.[xv]
Xu untersucht in seiner Arbeit auch die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen China, dem Ort, an dem er aufgewachsen ist, und den USA, wo er jetzt lebt. Temporarily Censored Home (2018 – 19) ist eine Intervention in der Wohnung seiner Eltern in Beijing, bei der er in allen Räumen Fotografien auf komplizierte Weise schichtet und so den heterosexuellen Raum verqueert. In seinem Film Complex Formation stellt er Handyfotos, die seine Mutter während gemeinsamer Reisen durch die USA und Europa gemacht hat, seinen eigenen 3D-Animationen gegenüber. Im Video kombiniert er dazu einen Monolog und eine Konversation mit seiner Mutter über kulturellen Einfluss und den American Dream.
Xu fragt, „Wie können wir dem Bild und der Autorität eines Bildes, das jemanden darstellt, vertrauen? Es ist wirklich wichtig, den Betrachter und die Betrachterin aktiv daran zu erinnern, dass diese Bilder konstruiert sind? Identität ist konstruiert und immer im Fluss.“ Binschtok markiert die Konstruiertheit von Bildern in ähnlicher Weise, indem sie Verstehensmuster kommentiert, die im Zusammenhang mit dem Sammeln, Konsumieren, Recyceln und dem Wert von Dingen in der Kunstwelt und darüber hinaus zurzeit viel diskutiert werden. Was Computer natürlich nicht transportieren können, ist die materielle Präsenz von Objekten. Wenn alles in digitale Bilder einheitlicher Größe verwandelt wird, geht die Vielfalt an Größen, Materialitäten, Geruchs-elementen und Körperlichkeit verloren. Wie viele andere aus ihrer Generation sucht sie nach Wegen, diese Dimensionen zurückzugewinnen, neu zu konzeptualisieren und neu zu denken.
Der Begriff „vernetztes Bild“ („networked image“) wurde 2008 von Katrina Sluis und Daniel Rubinsteinin ihrem Essay A Life More Photographic geprägt.[xvi] Dieser Essay war eine der ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Onlinefotografie im Hinblick auf Politik und Ästhetik der algorithmischen Kultur, ihre soziale Verbreitung und ihren kulturellen Wert befassten. Während ihrer Studienzeit Anfang der 2000er Jahre arbeitete Binschtok an der Schnittstelle zwischen dem Digitalen und dem Analogen und hat die Ideen aus diesem einflussreichen Essay in ihrer künstlerischen Praxis sicherlich intensiv rezipiert. Sie ist mit dem Internet aufgewachsen und ist sich sehr bewusst, wie es die Welt und unser Verständnis von uns selbst in ihr verändert hat. Ihr Verhältnis zur digitalen Welt unterscheidet sich nicht von dem zur „realen“ Welt und es gibt keinen „digitalen Dualismus“ in der Art und Weise, wie sie Bilder verwendet und über sie nachdenkt.[xvii]
Zu jedem Suchbegriff findet eine Suchmaschine mehr Bilder als frühere Generationen in einem ganzen Leben zu sehen bekamen, und in einer digital vernetzten Welt können diese Bilder unendlich vielfältig miteinander verknüpft sein. Binschtok arbeitet mit Bild-Such-Algorithmen, um Bilder visuell zu gruppieren. Dann verbindet sie diese Bilder zu Clustern und macht so die zufälligen Assoziationen sichtbar, die sich online zwischen privater und öffentlicher Bildproduktion ergeben. Das individuelle Bild wird irrelevant, während Assoziationen und visuelle Ähnlichkeiten in den Vordergrund rücken. Binschtok verzichtet auf jegliche lineare Erzählung und macht damit die scheinbar zufälligen Rechenentscheidungen sichtbar, durch die bei jedem Klick auf „Neu laden“ die verfügbaren Informationen neu arrangiert werden. Die Bilder, die der Künstlerin zur Verfügung stehen, sind jeden Tag andere, je nachdem, wo sie sich gerade aufhält, wonach sie zuletzt gesucht hat oder wofür sie ihr Geld ausgibt, und illustrieren so, wie sehr wir alle von der Institution Google abhängig sind. Die visuellen Entscheidungen über die Auswahl und Kombination einzelner Bilder und ihre Präsentation liegen natürlich bei der Künstlerin. Es liegt eine gewisse Poesie in den Entscheidungen des Algorithmus, aber Binschtok ist diejenige, die die Schnittmengen und neuen Zusammenhänge herstellt und gestaltet, nicht selten mit einem komischen oder melancholischen Effekt.
Curatorial Wonderings
Trotz aller Fortschritte, die wir auf technologischem Gebiet schon gemacht haben, werden Herausforderungen, Risiken und Vertrauen in der menschlichen und technologischen Interaktion im weiteren Verlauf des Jahrhunderts immer wichtiger werden. Vertrauen ist die Basis, auf der alle unsere menschlichen Beziehungen beruhen, und wenn wir einander vertrauen, fällt es uns leicht, aufmerksam und empathisch miteinander umzugehen. Für uns ist Kuration eine Kunst, in der Vertrauen, Wissensaustausch und Dialog zentrale Werte sind. Unser kuratorischer Prozess ist ein Gemeinschaftsprojekt, er entsteht aus Gesprächen, der kritischen Reflexion von beruflichen Beziehungen und von Freundschaft, dem Nachdenken über das vergangene Jahr und über zusammenfließende oder auseinanderdriftende Interessenlagen. Wir sehen den kuratierten Raum – den digitalen Raum während des vergangenen Jahres und den Raum der Werkschau (Halle 12) während der zehn Tage des Festivals – als einen Ort des kollektiven Lernens für die Künstler:innen, uns selbst und das Publikum, der geprägt ist durch partnerschaftliche, solidarische, gemeinschaftliche und – natürlich – vertrauensvolle Beziehungen.
[i] Zu der schnell wachsenden Gemeinschaft von Forschenden, die sich über Fächer- und Landesgrenzen hinweg dem Thema Vertrauen widmen, gehören das First International Network on Trust oder FINT (http://www.fintweb.org/), das Centre for Trust Research an der SOAS in London und das Center for Trust Studies an der University of Arizona.
[ii] Jack Zenger, Joseph Folkman, „The 3 Elements of Trust“, Harvard Business Review, February 05, 2019, https://hbr.org/2019/02/the-3-elements-of-trust (abgerufen am 23. März 2021).
[iii] Für einen Überblick über die Schwierigkeiten der Vertrauensforschung siehe: Ping P. Li (2011) „The Rigour – Relevance Balance for Engaged Scholarship: New Frame and New Agenda for Trust Research and Beyond“, Journal of Trust Research 1 (1): 1 – 21.
[iv] Aus einem Künstler:innenstatement, Mai 2021.
[v] http://www.objektiv.no/visualwanderings.
[vi] Zum Programm der Digital Wonderings gehören: Susanne Ø. Sæther, Onora O’Neill, Nigel Warburton, Lebohang Kganye, Salma Abedin Prithi, Dannielle Bowman, Clara Hausmann, Anthony Luvera, Fred Hüning, Delpire & Co, Whitney Hubbs, Katrina Sluis und Jonas Lund, Carmen Winant, Hoda Afshar, Viktoria Binschtok, Ingrid Eggen, Laure Prouvost, Paul Mpagi Sepuya und Guangu Xu.
[vii] Aus einem Künstler:innenstatement, Mai 2021.
[viii] Michelle Dent, M.J. Thompson, „Women and Performance“, A Journal of Feminist Theory (2004), Volume 14, Issue 1: 6.
[ix] Das Motiv der Berührung in der Videokunst wird in unserem dritten Digital Wondering untersucht, dem Essay „Touch/Space: The Haptic in 21st-Century Video“ von Dr. Susanne Ø. Sæther. Sie untersucht Aspekte des Haptischen in der neueren Videokunst und das auffällige Motiv der Hand, die den Bildschirm berührt und so eine vielschichtige Räumlichkeit entstehen lässt. Dabei entsteht oft ein Mise-en-abyme, besonders wenn man ein solches Video auf einem mobilen Gerät betrachtet. Ihre Beispiele hüllen den:die Betrachter:in ein und laden uns ein, den Rechenraum zu betreten.
[x] Aus einem Künstler:innenstatement, Mai 2021.
[xi] Aus dem Interview „On Finding Your Form“, https://thecreativeindependent.com/people/paul-sepuya-on-finding-your-form/ (abgerufen am 24. Mai 2021).
[xii] S. Rowlinson (2009), „Interpersonal Trust and Inter-Firm Trust in Construction Projects“, Construction Management and Economics, 27 (6): 539 – 54.
[xiii] M. Taussig, „Winds of History“ (2021) in H. Afshar, Speak the Wind, MACK, London, 2021.
[xiv] Im Interview für unser zweites Digital Wondering denkt die britische Philosophin Onora O’Neill darüber nach, wie wir über „Vertrauen“ sprechen und wie sehr sich seine Bedeutung in ihrem Fachgebiet, der Bioethik, in den vergangenen 15 Jahren verschoben hat. Dies stimmt überein mit der zunehmenden Bedeutung der Vertrauensforschung und der Verschiebung im Verhältnis zwischen Ärzt:innen und Patient:innen. Während man früher unter Vertrauen das unausgesprochene Einverständnis von Seiten des:r Patient:in verstand, ist heute in der Regel ein förmlicheres Einverständnis nötig. Vertrauen orientiert sich zunehmend an den Meinungen Dritter und an verallgemeinernden Kategorien, ohne kritisches Urteilsvermögen und Differenzierung.
[xv] Aus einem Künstler:innenstatement, Mai 2021.
[xvi] Daniel Rubinstein, Katrina Sluis (2008), „A Life More Photographic“, Photographies,1: 1,9 – 28. Katrina Sluis hat an Digital Wondering 13 mitgewirkt, in dem sie mit dem Künstler Jonas Lund darüber spricht, wie er die Fotografie aufgegeben hat, über die Politik der Ambiguität, Automatisierung, digitales Marketing, Dezentralisierung, Blockchaintechnologie und Vertrauen.
[xvii] Der Begriff „digitaler Dualismus“ („digital dualism“) wurde von Nathan Jurgenson geprägt. Für einen hervorragenden Überblick über vernetzte Bilder und „Social Photography“ siehe: N. Jurgenson, The Social Photo: On Photography and Social Media, Verso, London and New York, 2019.